FS#2 Ethik in der Praxis
Von dieser Veranstaltung gibt es auch eine Videoaufzeichnung.
Onlineveranstaltung 23.1.2021, 43 Teilnehmer*innen.
Protokoll von Tina Mantel und Nadine Schwarz.
Input: Nicolas Y Galeazzi (BEL/CH)
Nicolas Y Galeazzi ist aktiv bei S0TA - State of the Arts - einer Künstlerorganisation in Belgien, die den Fair Arts Almanach initiiert hat. 2013 haben sich Kulturschaffende zusammengeschlossen aus Angst vor einem Rechtsrutsch bei den anstehenden Wahlen in Belgien und dessen Auswirkungen auf die Kultur. Ziel war ein klares Statement an die Kulturpolitik. Fair Practice wurde in diesem Zusammenschluss bald ein wichtiges Thema. Zuerst wollten die Beteiligten ein Label schaffen, haben diese Idee dann aber verworfen, weil der bürokratische Aufwand zu gross schien und die Angst umging, dass das Thema durch ein Label an Brisanz und Lebendigkeit verliert. So entstand kein Label und die Initiative verlor etwas an Fahrtwind.
Erst später kamen sie zum Entschluss, einen Almanach zu verfassen, der immer wieder überarbeitet und neu aufgelegt werden kann, davon ausgehend, dass Fairness nicht abschliessend geregelt werden kann, sondern in Beziehung gesetzt werden und laufend diskutiert werden muss.
Im Almanach 2019 sammelten sie Tipps und Tricks aber auch Visionen und Träume. Der Band entstand mit insgesamt 50 Personen aus ganz verschiedenen kulturellen Sektoren. Der Inhalt wurde in einem einwöchigen Camp zusammengetragen. Während einer weiteren Woche wurden die Notizen in Textform gebracht. Diese Texte wurden nochmals von 20 Leuten überarbeitet. Das Resultat - der Almanach - ist weder konsequent noch einheitlich, und teils auch widersprüchlich. Er trägt technische, emotionale und visionäre Elemente und soll in Ausbildungsstätten, Theatern, und anderen Institutionen als Instrument für Diskussionen genutzt werden. Die nächste Ausgabe soll im 2022 erscheinen.
Input: Anne Breure (NL)
Anne Breuer arbeitet mit dem Team, das in den Niederlanden den Fair Practice Code verfasst und etabliert hat. Zitat Andrea Frazer:
It is not a question of being against the institution. We are the institution. This is the question of what kind of institution we are, what kind of values wie institutionalize, what form of practice we reward, and what kind of rewards we aspire to.
(Es geht nicht darum Institutionen abzulehnen. Wir sind die Institution. Die Frage ist, welche Art von Institution wir sind, welche Werte wir institutionalisieren, welche Form der Praxis wir anerkennen und welche Art von Belohnungen wir anstreben.)
Es gibt eine grosse Diskrepanz zwischen der Innen- und Aussensicht bezüglich Fair Practice. Starke Kürzungen in den Niederlanden im Kultursektor führten im Jahre 2013 dazu, dass Theater und Künstler*innen das gleiche Programm mit immer weniger Geld durchgezogen haben. Die Politik begrüsste dies als Erfolg. Die Tatsache musste als Argument herhalten, dass Kunst gut mit weniger Geld auskommt, bis ein Bericht des Sozial- und Wirtschaftsrates SER das Prekariat des Kultursektors ans Licht brachte. Reden wir über Grundwerte, sind sich immer alle einig. Bei deren Umsetzung wird es allerdings schnell schwierig. Der Fair Practice Code muss immer weiterentwickelt werden. Durch den Code kann die eigene Praxis durchleuchtet und Missstände können erkannt werden. Der Code ist ein Leitfaden oder Kompass, kein Regelwerk.
Zentrale Werte des Codes of Conduct sind Solidarität, Transparenz, Vertrauen, Nachhaltigkeit und Diversität. Fair Chain, Fair Share, Fair Pay sollen gelebt werden. Dies gilt für alle Player.
Die Anwendung passiert im Dialog. Es bedarf einer Änderung der Mentalität. In den Niederlanden ist der Code bereits ein Förderkriterium. Für dessen Umsetzung braucht es aber auch mehr Fördermittel. Viele Institutionen setzen sich für Fair Practice ein, meinten aber, dass dies nun in der Corona-Krise nicht umsetzbar sei. Dabei ist er gerade jetzt wichtig. Der Code könnte zudem als Leitfaden beim Wiederaufbau nach der Krise dienen.
Diskussion
MH Der Umgang mit Begriffen wie “Fair Practice” sind kritisch. Sie werden oft inflationär verwendet.
Nicolas Y Galeazzi Diese Begriffe müssen mehr Verwendung finden, um Diskussionen auszulösen. Es muss lokalisiert werden, wo in unserem eigenen Tätigkeitsfeld und in allen Systemen der Kultur, diese Werte umgesetzt werden, und wo sie nur hohle Begriffe sind. Wo setzen wir an? Sind Quoten sinnvoll?
Anne Breure Die Werte müssen in den Niederlanden in den Jahresberichten und Anträgen kritisch und selbstreflektiv thematisiert werden.
MS Ich vermute, dass unterschiedliche Bereiche unterschiedlich kontrolliert/reglementiert/diskutiert werden müssen. Machtmissbrauch muss in Audits kontrolliert werden, Diversität und Solidarität eher in kontinuierlichen Diskussionen.
Nicolas Y Galeazzi Regelungen reichen nicht, wenn soziale Zusammenhänge nicht berücksichtigt werden. Regelmodelle sind nur Krücken. Macht muss immer wieder neu diskutiert werden. Regelungen helfen, müssen aber laufend diskutiert werden.
Paola Pitton (Label Kultur inklusiv) Ich beobachte, dass eine Leitungsperson zuerst die Bereitschaft haben muss, Macht abzugeben und Zeit und Geld zu investieren, um Inklusivität zu ermöglichen. Regelungen müssen mit den Betroffenen gemeinsam entwickelt werden. Unser Problem ist, dass nicht mehr Geld für die Bemühungen für Inklusivität gesprochen werden. Das Label existiert seit 2016 gesamtschweizerisch. Die Kriterien sind sehr klar definiert. Deshalb war es möglich ein Label zu schaffen. Der Aufwand war gross. Starrheit wird umgangen, indem mit jedem Partner individuelle Abmachungen getroffen werden. Das Label wird für 4 Jahre an Institutionen vergeben, die sich auf den Weg machen, inklusiv zu werden. Man erhält das Label also nicht erst wenn alles umgesetzt ist. Es braucht ein Bedürfnis, die Bemühungen nach aussen zu tragen, an Publikum und Förderstellen. Das Label funktioniert selbstverpflichtend. Nachhaltige Veränderungen sind das Ziel.
NK Wie soll man vorgehen, ohne sich zu überfordern. Gerade in der freien Szene, die sowieso ressourcenmäßig am Anschlag ist.
Nicolas Y Galeazzi Es braucht schrittweises Vorgehen. Alleine als Institution schafft das niemand, sondern nur der Kultursektor als Ganzes. Ein Beispiel ist diese Charta, die man unterschreiben kann. Dadurch verpflichtet man sich, keine unterbezahlte Arbeit anzunehmen. In Belgien haben sich Häuser zusammengetan und gemeinsam ihr Fair Practice Vorgehen angeschaut. Initiative Engagement Arts: in der Folge von #metoo, Plattform für anonyme Zeugnisse.
MH Die beiden Initiativen waren Bottom-up-Bewegungen, die zu Selbstermächtigung geführt haben. Wo tut man sich zusammen und wo überlässt man das Feld der Politik? In den Niederlanden übernahm rasch die Politik, was die Szene eher geschwächt hat, weil trotz der Übernahme des Codes auf politischer Ebene nicht mehr Geld für die Umsetzung zur Verfügung gestellt wurde.
NK Wir sollten auch in der eigenen Trägerschaft auf Diversität etc. achten. Auch Vorstände sollten divers sein und es braucht mehr Lobbyarbeit.
Anne Breure Es war riskant, dass die Politik den Fair Practice Code annahm, ohne die Förderpolitik anzupassen. Glücklicherweise initiierte dies eine Diskussion, die zu mehr Finanzmitteln geführt hätte. Leider begann dann Corona und die Mittel wurden nicht gesprochen. Dies ist ein gutes Beispiel, wie mit Fair Practice umgegangen wird. Grundsätzlich finden es alle wichtig, aber wenn jemand persönlich betroffen ist, z. B. indem sie*er dadurch nicht mehr arbeiten kann, will sie*er faires Verhalten doch nicht umsetzen. Man kann allerdings auch mit dem Fair Practice Code arbeiten, wenn nicht alle Bedingungen eingehalten werden können, solange dies transparent kommuniziert wird. (Z. B. Wir können Künstler*innen momentan nicht besser bezahlen, da wir nicht mehr finanzielle Mittel bereitstellen können).
Flavia Fall (Label Kultur inkl) Beim Label von Kultur Inklusiv beugen wir Überforderungen vor, indem wir individuelle Lösungen suchen und mit den Institutionen schrittweises Vorgehen. Wenn Betroffene in die Entscheidungen und in die Planung mit einbezogen werden, passiert es kaum, dass z.B. Vorstellungen in Gebärdenübersetzung gezeigt werden die Hörbehinderte gar nicht besuchen.
Noémie Delfgou (Reso) Manifesto For Fair Practices von Reso: Gemeinsam mit Nicolas und diversen Kulturschaffenden hat reso ein Manifest entwickelt: Das entstandene Plakat wurde allen Institutionen zur Verfügung gestellt. Noch ist unklar, wie es weitergeht. Direkte Kommunikation, Netzwerk- und Lobbyarbeit sind wichtig und sollten als erster Schritt stärker gelebt werden.
XY Der Code ist ein Dach, kein festes Regelwerk. In gewissen Bereichen gibt es Regeln mit konkreten Zahlen, in anderen nicht. Er ist juristisch nicht bindend – aber dank dem Code gibt es eine Entwicklung auch auf juristischer Seite.
Trixa Arnold (FS) Wie habt ihr die Institutionen erreicht?
Anne Breure Die Diskrepanz zwischen der öffentlichen Seite und der internen Handhabung ist schwierig. In den Niederlande wurde der Code zu einem Förderkriterium. Deshalb wurde der Code mehr und mehr bindend. Es braucht Mut selbst-reflektiv damit umzugehen und zuzugeben, wo es noch nicht gut läuft. So wird der Code zu einem Werkzeug, um weitere Forderungen zu stellen und die Diskussion aufrecht zu erhalten. Künstler*innen können inzwischen darüber sprechen, dass Arbeitsbedingungen nicht Fair Practice entsprechen.
Nicolas Y Galeazzi Verantwortung für die Umsetzung. 10% von Aktivitäten der Bevölkerung sind kulturell, aber nur 0,01% werden für Kultur ausgegeben. Hier stimmt was nicht. Es braucht mehr Lobbyarbeit! Künstler müssen dies auch verstehen. Unsere Arbeitshaltung ist verzerrt.
Nicolette Kretz (Künstlerische Leitung Festival Auawirleben) Oft argumentieren Veranstalter*innen, es mangle an Geld zur Umsetzung von Fair Practice. Aber viel - ausser faire Gagen - kann getan werden, ohne dass die Kosten erhöht werden (Diversität im Team, transparente Kommunikation). Kleine Häuser sollen mehr Geld einfordern, damit sie faire Gagen bezahlen können. Thema Diversität: Problematik: Personen in Teams sollen die Diversität «abdecken» , obwohl sie gar nicht wirklich gegeben ist. Transparenz in Abschlussberichten ist ganz wichtig. Geld ist nicht immer der Hinderungsgrund, sondern auch zeitliche Ressourcen.
Nicolas Y Galeazzi Besser als der Begriff «Integration» wäre das Wort «Teilen». Für den Almanach haben wir nebst Menschen aus Institutionen Personen aus allen Bevölkerungsschichten/Gruppierungen eingeladen. Deren Beteiligung erhöht die Bereitschaft, den Almanach anzunehmen. Er ist in vielen Büros, Foyers und Garderoben anzutreffen. Er sollte auf allen Klos in Kulturinstitutionen liegen! Im Zusammenhang mit Workshops wurde das Buch grosszügig verteilt. Kunstuniversitäten sind fruchtbarer Boden, die über Fair Practice hören sollten.
Anne Breure Mit der Forderung nach Faire Practice sollten wir an alle herangehen: an Künstler, Institutionen, Ausbildungsstätten und an die Politik. Wir müssen unsere Prioritäten hinterfragen, es liegt nicht immer am Geld.
MH Die Haltung der Kunstschaffenden muss sich ändern und das beginnt in den Ausbildungen.
Trixa Arnold (FS) Zusammenfassend: Fairspec ist daran Leitlinien zu erarbeiten. Wir sind glücklich, dass so viele von euch dabei sind. Das Initiativkomitee ist bereits in Kontakt mit den Zürcher Förderstellen.
Anna Bürgi (Ressortleitung Tanz, Kulturförderung Stadt Zürich) Die Leitlinien sollen in die neuen Subventionsverträge einfliessen.
Nadine Schwarz (FS) Nebst Regelwerken und Leitlinien braucht es eine kontinuierliche Diskussion zum Thema Fair Practice. Es braucht starke Netzwerke, Transparenz aber auch konkrete Finanzierung. Die Sensibilisierung braucht den ständigen Dialog. Fairness muss gelebt werden. Das ist unser Ziel. Der nächste Fairspec-Anlass findet am 6. März statt zum Thema “Macht / Struktur / Branchenkultur”.
Nicolas Y Galeazzi Es braucht viele solcher Initiativen wie die von Fairspec. Sie sind alle Nährboden (m2act, Reso, ZHdK, Fairspec) und deren Zusammenarbeit ist wichtig.
Im Nachhall: Gibt es ein europäisches Netzwerk? Lesenswerte Beispiele: reshape.network und Dancers Connect, neues Netzwerk für Tanzschaffende Deutschlands, das sich um faire Arbeitsbedingungen bemüht. Es braucht lokale Strukturen – aber der internationale Austausch ist sehr fruchtbar. Kopieren und integrieren von anderen Praktiken und gegenseitig inspirieren.