Ist der Kodex ein Stuhl?
Gehören gemeinsam vereinbarte Werte genauso zu den Grundfesten eines Theaterhauses wie das Interieur, oder verschwinden sie mit jedem Leitungswechsel?
Die Auseinandersetzung mit dem FAIRSPEC Kodex hat Institutionen und Festivals in der Schweiz inspiriert, eigene Dokumente zu verfassen, in denen die Werte ihrer Zusammenarbeit festgehalten sind. Der Kodex wurde in fünf FAIRSPEC-Veranstaltungen 2020/21 durch Akteur:innen der freien Kulturszene gemeinsam gestaltet, er soll fluid bleiben und laufend überarbeitet werden. Im Rahmen der Veranstaltung “Austauschen und Zuhören I” vom 4. März 2023 folgten acht Kulturschaffende aus der Deutschschweiz der Einladung und trafen sich mit dem Vorstand von FAIRSPEC im Nordflügel der Gessnerallee in Zürich. Diese Begegnung abseits von Arbeitsverhältnissen bietet Raum für einen vertieften und differenzierten Austausch zu Themen, die die freie Szene beschäftigen und ermöglicht eine generelle Aufnahme der Stimmungslage. Das Thematisieren konkreter (Arbeits-)Situationen und Erfahrungen führt zu einer gemeinsamen Abstraktion. Die dem Konkreten zugrunde liegenden Strukturen werden erkennbar und lassen sich formulieren. Die Erwartungen der Teilnehmenden reichen vom Bedarf nach Austausch in der Szene über das Erleben von Gemeinschaftsgefühl zum Wunsch, zu wissen, woran FAIRSPEC arbeitet. Zum Schluss wurde das Fazit gezogen, dass das Gefühl der Überforderung in der freien Szene durch den Erfahrungsaustausch gelindert werden konnte, die Relevanz von Austauschs und Begegnung wurde hervorgehoben. Erleichtert wurde festgestellt, Resilienz muss man nicht alleine aufbauen, denn die Veranstaltung hat gezeigt: man kann sich gegenseitig den Rücken stärken.
Dieser Blog gibt nachstehend die Essenz der drei diskutierten Themenfelder wieder
Themenfeld: Angriffe von Rechtskonservativen
Ausgangslage
Kindertheatervorstellungen, die Geschlechterdiversität thematisieren, wurden in jüngster Zeit angegriffen, in rechtskonservativen Medien verurteilt und Lehrpersonen sagten den Vorstellungsbesuch ihrer Schul- oder Kitagruppen wieder ab. Von Einzelfällen, auf die es solidarische Reaktionen gab, hat zumindest eine Teilöffentlichkeit Kenntnis. Wir verstehen diese Einzelfälle als die sichtbaren Symptome für eine von bestimmten Medien ausgehende Stimmungsmache gegen Theaterschaffende und Institutionen, welche die Kulturszene für politische Ziele instrumentalisiert. Wie kann dem und der Anti-Wokeness-Bewegung begegnet werden? Im Grunde werden somit Menschenrechte attackiert, die für diejenigen, die den Kodex nutzen, nicht verhandelbar sind. Der Kodex enthält bereits viele Menschenrechte - kann er einen Status erhalten, der über die Kulturszene hinaus wirkt?
Handeln
agieren statt reagieren: Handlungsspielraum aus der eigenen Aktion heraus nutzen
alternative Berichterstattung fördern: gezielt Journalisten ansprechen, die das Kulturschaffen differenziert reflektieren
Veranstalten eines Kulturgipfels, um mit unterschiedlichen Expert*innen ins Gespräch zu kommen. Keep in mind: Eine Tagung als Bubble schafft keine Sichtbarkeit, aber als Vergemeinschaftung stärkt sie (Empowerment) und ist somit relevant.
eine Demo organisieren
Verfasserinnen von «Alles nur Theater. Zum Umgang mit dem Kulturkampf von rechts (2019)» einladen (Berlin).
Themenfeld: Erwartungen an Fairspec
Wie wird der Kodex eigentlich angewendet, welche Wirkung hat er, welche neuen Wirkungsfelder stehen an?
Feststellung: Themen, die im Kodex genannt werden, sind ein Versuch, Probleme auszubügeln, die durch die Leistungsförderung entstehen. Solange die Leistungsförderung besteht, sind diese Themen also akut.
Anwendungsbeispiel: Eine Anwendung des Kodex kann sein, den Kodex bei Probenbeginn gemeinsam zu lesen und sich darüber auszutauschen, wie die Begrifflichkeiten von allen Beteiligten verstanden werden
Wirkung: Welche Guidelines haben sich aus dem Kodex heraus entwickelt? Eine Auflistung könnte dies sichtbar machen.
Verbindliche Instanz: Die Existenz von Fairspec und dem Kodex lässt den Wunsch nach einer unabhängigen Schlichtungsstelle aufkommen, die Fairspec nicht ist und nicht sein kann. Braucht es eine solche Instanz, wie könnte sie aussehen?
Schutz: Krankheitsausfälle in Form von Erwerbsausfallversicherung können von freien Produktionen nicht geleistet werden. Für Freischaffende müsste dies auf politischer Ebene gewährleistet werden - kann Fairspec hier aktiv werden oder ist das ein Handlungsfeld für t.punkt?
Erweiterung von Themen: Wie kann der Kodex das Bewusstsein für Klassismus schärfen? Wie kann man das Thema des Klassismus in den Diskurs von Inklusion und Diversität reinnehmen?
Themenfeld: Umgang mit der Verunsicherung in der Konzeptförderung (Stadt Zürich)
Zentral in diesem Themenfeld ist die Fragestellung nach der Verantwortung hinsichtlich des aktuellen Klimas in der freien Szene in Zürich. Wie gestalten sich Begegnungen unter den Prämissen der Konzeptförderung und wer gestaltet diese? Wie sind Transparenz und gutes Klima in der freien Szene trotz Konzeptförderung möglich?
Eine Sammlung von Fragen zum Umgang mit (neuen) Machtverhältnissen
Durch die Konzeptförderung wird es in der freien Szene in Zürich «stadttheaterlicher», die Häuser erhalten durch die neue Förderungen mehr Macht. Dies legt die Forderung nach einer Instanz nahe, die extern auf die neu entstehenden Mechanismen blicken kann und prozessbegleitend evaluiert. Das könnte eine Organisation aus der Szene heraus sein. Welche Rolle übernehmen die Häuser als Koproduzent*in?
Produktionsbudgets: Neu entscheiden Institutionen mit über Produktionsbudgets - somit greifen sie in künstlerische Praktiken ein. Wie kann der Umgang zwischen Veranstalterinnen und Künstlerinnen vor diesem Hintergrund optimiert werden?
Eine Ent-Hierarchisierung in Häusern und Produktionen wird im Moment in Verbreiterung gedacht, d.h. in Prozesse und Entscheidungen werden mehr Personen involviert. Welche weiteren Formen der Ent-Hierarchisierung gibt es?
Der Ruf danach, Strukturen zu entlasten, ist allgegenwärtig. Künstler*innen und Häuser möchten weniger, aber wertiger produzieren. Wird die Belastungskapazität beim Produzieren bei Häusern minimiert fehlen alternative Veranstalter*innen, die diese Produktionen auffangen. Dabei entsteht ein Widerspruch; durch nachhaltigere und wertigere Produktionsweisen findet gleichzeitig eine Verknappung von (Probe-)Raum und Produktionsgeldern statt und der Wettbewerbsdruck steigt. Die Schere zwischen Gewinner- und Verlierer:innen wird noch grösser.
Die Subventionsvereinbarung mit den Förderungen von Stadt und Kanton stehen noch nicht. Kann es eine Instanz der Szene geben, welche die Subventionsvereinbarung mit aushandelt und die langfristig eine Kontrollfunktion übernehmen kann?
Fazit: Gemeinsam können wir uns gut stärken!